Im Bett ist der Mensch nicht gern alleine
homo.net Info vom 10. September 2020
von Webmaster Jan
Wir sind geboren, um frei zu sein. Mein Kopf geht immer mehr kaputt, aber ich nehm‘s nicht hin. Wir folgen alle einem großen Arsch, so wie das Leben stinkt.
Nichts wie weg, ich zieh‘ durchs Land und mach‘ kaputt, was mich kaputtmacht.
Und alles, was du dann noch sagen kannst, ist: „Das ist aber ein ganz schöner Hammer!“
Und mit einem ganz schönen Hammer hat alles begonnen. Vom 4. bis 6. September 1970, also vor satten 50 Jahren, findet das Love-and-Peace-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn statt, die deutsche Antwort auf das legendäre Woodstock-Festival. Hauptsponsor war die junge Unternehmerin Beate Uhse, die auch in ihren damals gerade mal 20 Läden für Ehehygiene Eintrittskarten für das Festival der Liebe verkaufte.
25.000 Besucher kamen, um Jimi Hendrix live zu erleben. Er war auf dem Höhepunkt seiner deutschen Popularität, der Woodstock-Film war gerade in den Kinos angelaufen. Zwei Woche später trat er ab und war tot.
Am letzten Tag von Love-and-Peace treten Musiker der Märchenbühne Rote Steine erstmals in einem öffentlichen Konzert auf. Die singen wie im Märchenspiel Beatmusik auf Deutsch. Mit zwei Liedern aus Aufführungen der Märchenbühne stellen sie sich vor.
Dann wird deutsche Beatmusik zur Waffe. Als die Veranstalter mit den Eintrittsgeldern durchbrennen, ohne die Musiker zu bezahlen, singen die Roten Steine gerade „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“. Die Besucher nehmen es wörtlich, das Organisationsbüro geht in Flammen auf. Zwei Lieder später brennt die Bühne ab. Wahrlich eine Feuertaufe. Der Vorfall steigert den Bekanntheitsgrad der Musiker enorm. Sie verlassen die Märchenbühne und werden zu Ton Steine Scherben.
Im selben Jahr verkündet Bandleader Rio Reiser öffentlich sein Coming-out: Fortan steht er offen zu seiner Homosexualität. Für 1970 eine Sensation.
Wer kennt sie nicht, ihre Lieder? 1971: „Warum geht es mir so dreckig?“, „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ und „Der Kampf geht weiter“ 1972: „Die letzte Schlacht gewinnen wir“. „Keine Macht für niemand“ ist noch heute gängiger Polit Slang. Schon bei „Wir müssen hier raus!“ singen sie „Im Bett ist der Mensch nicht gern alleine, und in meinem Bett ist grad noch Platz für dich,“ „Der schönste Platz ist immer an der Theke“ und „Wir werden es schaffen“. Alles schon mal da gewesen.
Die Scherben erlangen schnell Kultstatus. Das Rauchhaus Lied wird zur Hymne der Hausbesetzer. Im Anschluss an Ton-Steine-Scherben-Konzerte kommt es immer öfter vor Ort zu neuen Hausbesetzungen.
1975 sehen sich die Scherben als „Jukebox der Linken“ in Berlin missbraucht. Sie ziehen zurück aufs Land, nach Fresenhagen, Nordfriesland. Dort leben sie als Kommunarden zusammen und schlagen private, sanftere und melancholischere Töne an. „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“
Hörspiele, Kinderplatten und Musik für die schwule Theatergruppe Brühwarm folgen. „Wenn dein kaltes Bett dich nicht schlafen lässt, halt dich an deiner Liebe fest.“ Aber „Du willst immer nur f!c%*n“ bis „Der Traum ist aus.“
1981 kommt es zum Comeback. Mit dem Doppelalbum IV lösen sie sich von Image der Polit-Combo und besingen in 22 Liedern die 22 Trümpfe der Wahrsagekarten des Tarots. Die heutige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Claudia Roth (65, Die Grünen), übernimmt unter anderen das Management. Mit der eingängigen LP „Scherben“ (1983) folgt Tournee auf Tournee, unter anderem auch im Wahlkampf für die Grünen. Für die Jüngeren unter uns: LP bedeutet Langspielplatte. So was gab es damals. Die konnte bis zu sagenhafte 30 Minuten spielen! Und das pro Seite!
1985 holt ein Schuldenberg Ton Steine Scherben ein. Die Band löst sich auf. Die Musiker machen einzeln weiter. Gute Musiker sind sie jedenfalls, eingängig die Melodien, ansteckend ihre Rhythmen. Da bleibt keiner still sitzen. Für ein paar fetzige Stunden lohnt sich die Suche nach ihren Liedern im Internet allemal.
Wegen ihres radikalen Rufes meiden Radiosender trotzdem bis heute die Lieder der Band, selbst die unpolitischen Stücke und die populären Ohrwürmer. Ausnahmen waren zwei Konzerte, die Rio Reiser 1988 in Ost-Berlin gab. Sie wurden sogar im Fernsehen der DDR gesendet, einschließlich der politisch radikalen Scherben Titel.
Nicht mitgesendet wurde das Lied „Der Traum ist aus“.
Ich hab geträumt, der Krieg wär vorbei.
Der Traum ist – aus.
Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist?
Ich weiß es wirklich nicht.
Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher,
dieses Land ist es nicht.
Hier hat wohl das DDR-Publikum zu laut mitgebrüllt und zu auffallend heftig applaudiert.
Am 30. Oktober 1992 gibt es bei der Aktion für Toleranz - gegen Fremdenhass ein Konzert in Berlin Weißensee. Und Rio singt: „Gewalt ohne mich“.
Ich hab‘ so oft für dich gelogen. Und ich bieg‘ dir noch ‘nen Regenbogen,
für dich und immer für dich, wo immer du bist.
1996 starb Rio Reiser in Fresenhagen mit gerade mal 46 Jahren.
Ich werde dich lieben, dich lieben bis zum Tod, werd dich lieben bis ans Ende der Welt.
Rio, du fehlst in diesen widerlichen Zeiten
Jan
Webmaster
vom homo.net Team